Die Einvierteldänin
März 2018, meine Mutter liegt im Sterben. Sie ist 94 und die letzten Monate waren schlimm für sie. Immer wieder äußerte sie, „nach Hause“ zu wollen. Dabei war sie doch zu Hause, in einem Pflegeheim, gut betreut von PflegerInnen und ihren vier Töchtern, die sie – je nach Wohnort – mehr oder weniger oft besuchten. Was meint sie nur mit „nach Hause“? Nach Hause in ihre Wohnung, in der sie zuletzt gelebt hatte? Nach Kopenhagen, der Stadt, in der sie aufgewachsen ist? Oder in ein ganz anderes Zuhause, das sich gar nicht hier auf der Erde befindet?
In ihrer letzten Lebensphase, bereits im Morphiumnebel, spricht meine Mutter plötzlich nur noch Dänisch. „Nie wieder fahre ich ohne Kronen hier hin, wie soll ich denn jetzt meinen Kaffee bezahlen!“ ruft sie, die, als meine Mormor (= Oma) noch lebte, häufig zwischen Deutschland und Kopenhagen hin- und her pendelte, in größter Panik. Dann seufzt sie wieder mehrfach „dejlig“ (= herrlich, schön) und lächelt selig. Ich stehe relativ hilflos neben ihrem Bett und bereue, dass das zweisprachige Erziehen von Kindern in den 70er Jahren als „schädlich“ galt. Ich verstehe meine Mutter nicht. Ich kann nur ihre Hand halten und bei ihr sein. Bis zum Schluss.
Dänemark. Lange fand ich dich langweilig. Das personifizierte schlechte Wetter, eine Sprache, die sich stets anhört, als sei der Sprechende betrunken – was durchaus nicht immer der Fall ist. Als Kinder mussten wir Mormor (= Oma mütterlicherseits) besuchen, die in einem Vorort von Kopenhagen lebte. Ich wollte viel lieber in den Süden: Italien, Spanien – das waren die angesagten Reiseziele meiner Jugend. Wie neidisch war ich auf die bewundernswert gebräunte Haut meiner Freundin, wenn ich – kalkweiß – aus dem verregneten Dänemarkurlaub zurückkam. Und dann mein Vorname. Birgitte. Die deutsche Zunge ist einfach Brigitte gewohnt. Nervig.
Meine dänischen Verwandten
ab der 4. von links: Mormor, Mama, Opa
Mein liebstes Urlaubsziel seit dem Tod meiner Mutter: Dänemark. In dänischen Ferienhäusern, auf dem Loppemarket (Flohmarkt) und in Supermärkten bin ich auf den Spuren meiner Kindheit und finde sie überall. Hier ein lustig wippender Hoptimist, dort ein Becher aus der königlichen Porzellanmanufaktur. Im Superbrugsen: Pålæg Schokolade. Und Dannebros! Die dänische Nationalflagge flattert fröhlich in jedem Vorgarten und auf jedem Geburtstagstisch. Und Lakritz! Lakritz in allen erdenklichen Varianten: als Schnaps, als Bonbons, als Eis, im Bier, als Umhüllung für Datteln! Ich glaube, in meinem Blut fließt mittlerweile reines Lakritz. Immerhin bin ich eine Einvierteldänin! Nur Gammeldansk, diesen Kräuterschnaps, den meine Mutter stets zum Einschlafen, aber auch am Nachmittag zum Anregen und bei Magengrummeln jeder Art zu sich nahm, den vertragen offenbar nur 100%-DänInnen, da bin ich raus.
Lille Peter Edderkop kravled op ad muren.
Så kom regnen og skylled Peter væk.
Så kom solen og tørred Peters krop.
Lille Peter Edderkop kravled atter op.
I sin moders spindelvæv kravled’ han omkring,
men han bestilte ingen verdens ting.
Så sagde hans moder: Du skal fange fluer,
men Lille Peter Edderkop tog en gyngetur.
Was ist …
Wieviel Dänisches steckt überhaupt in so einer Einvierteldänin? Neben einer unnormalen Leidenschaft für Lakritz kann ich auf jeden Fall eine Neigung zu trockenem, fast schon bösartigem Humor nachweisen. Wie sollte es auch anders sein, wenn man in einer Phase kreuzunglücklichen Verliebtseins mit Sprüchen wie diesem „getröstet“ wurde: „Wenn du nicht kriegen kannst, was du liebst, dann musst du nehmen, was du kriegst. Und hat er keine goldenen Locken, so hat er vielleicht eine Hasenscharte.“
Hier zu hören …
… und was bleibt?
Was kann ich als Einvierteldänin ohne Dänisch-Kenntnisse an die nachfolgenden Generationen weitergeben? Für mein Enkelkind Liva (übrigens ein beliebter, dänischer Vorname) lerne ich „Lille Peter Edderkopp“ auf dänisch. Ich verschenke massenhaft Hoptimisten. Der Dannebrog steht vor dem Foto meiner Mutter. Ich importiere sehr viele Esswaren von königlichen Hoflieferanten. Ich versuche mehr oder weniger erfolgslos Dänisch zu lernen. Und irgendwann miete ich ein riesiges Ferienhaus in der Nähe von Kopenhagen. Ich packe meine drei Kinder, den Mann, das Enkelkind und sämtliche Hunde ein. Wir gehen durch die Straßen von Kopenhagen und ich werde sagen: „Hier hat eure Oma aka Uroma den dänischen König auf seinem Pferd getroffen. Und hier war sie nach der Schule schwimmen. Und das ist diese Brücke, wegen der eure Oma / Uroma oft zu spät in die Schule kam. Die wurde nämlich hochgezogen, wenn ein großes Schiff darunter durch musste.“
Und meine Mutter wird oben auf einer kleinen Wolke sitzen und entzückt: „Dejlig!“ rufen.
Lille Peter Edderkop kravled op ad muren.
Så kom regnen og skylled Peter væk.
Så kom solen og tørred Peters krop.
Lille Peter Edderkop kravled atter op.
I sin moders spindelvæv kravled’ han omkring,
men han bestilte ingen verdens ting.
Så sagde hans moder: Du skal fange fluer,
men Lille Peter Edderkop tog en gyngetur.
So schön geworden!